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BGH, Urteil vom 10.04.2024 (VIII ZR 114/22) – „Zur ernsthaften Gefahr des Suizids von Mietern“


Der Bundesgerichtshof hatte sich mit der Frage zu befassen, wie die Gerichte zu agieren haben, wenn eine ernsthafte Gefahr eines Suizids des Mieters im Falle einer Verurteilung zur Räumung der Wohnung besteht.

Der Beklagte zu 1 ist seit dem Jahr 1988 Mieter einer im Dachgeschoss gelegenen Zweizimmerwohnung, die er zusammen mit der Beklagten Ziff. 2 bewohnt. Der Kläger hat eine ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses wegen Eigenbedarfs erklärt. Die Beklagten widersprachen dieser Kündigung fristgemäß und führten als besondere Härte aus, dass ein Umzug aufgrund ihrer gesundheitlichen und finanziellen Situation „schlicht unmöglich“ sei. Der Kläger erhob Räumungsklage, die Beklagten wurden vom Amtsgericht antragsgemäß zur Räumung verurteilt. Die Berufungsinstanz hat das amtsgerichtliche Urteil bestätigt, nachdem von diesem ein psychiatrisches Sachverständigengutachten eingeholt worden ist. Der Bundesgerichtshof hat dieses Urteil des Berufungsgerichtes insoweit aufgehoben als die Härteregelung nach §§ 574 ff. BGB betroffen war und verwies die Sache an das Landgericht zurück.

Der Bundesgerichtshof hat beanstandet, dass die Würdigung des Landgerichtes, dass keine nicht zu rechtfertigende Härte bei einer Räumung vorliegt, rechtsfehlerhaft ist. Nach § 574 BGB kann der Mieter einer an sich gerechtfertigten Kündigung widersprechen und vom Vermieter die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung für ihn oder seine Familie eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Als Härtegründe kommen solche in Betracht, die sich von dem mit einem Wohnungswechsel typischerweise verbundenen Unannehmlichkeiten deutlich abheben. Insbesondere Erkrankungen in Verbindung mit weiteren Umständen können einen solchen Härtegrund darstellen.

Wenn vom Mieter im Falle eines erzwungenen Wohnungswechsels substantiiert schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend gemacht werden, haben sich die Tatsacheninstanzen beim Fehlen eigener Sachkunde regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit diese eintreten können.

Eine derart besonders sorgfältige Nachprüfung bei schwerwiegendem Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit folgt insbesondere aus dem Grundgesetz in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, so der BGH. Bei einer drohenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigung oder Lebensgefahr sind Gerichte verfassungsrechtlich gehalten ihre Entscheidung auf eine tragfähige Grundlage zu stellen und Beweisangeboten besonders sorgfältig nachzugehen. Vorliegend hat der Bundesgerichtshof beanstandet, dass das Berufungsgericht die im Streitfall gegebene Gefahr der Selbsttötung von vornherein von der Prüfung des Vorliegens einer Härte ausgeschlossen hat, weil sie allein auf der freien Willensbildung der Mieter beruhe. Demnach muss diese Gefahr bei der vorzunehmenden Prüfung des Vorliegens einer Härte Berücksichtigung finden, so der BGH.

Demzufolge muss das Landgericht aufgrund einer umfassenden Prüfung aller Einzelumstände entscheiden, ob wegen der bestehenden Gefahr eines Suizids und trotz Vorliegens der freien Willensbildung der Mieter eine Härte anzunehmen ist oder ob eine solche im Hinblick auf die den Mietern zugängliche und zumutbare, von ihnen aber nicht genutzte Beratungen sowie ärztliche oder therapeutische Behandlungen abzulehnen ist. Es kann mithin auch zu berücksichtigen sein, ob eine bei Verlust der Wohnung bestehende Suizidgefahr durch eine Therapie beherrschbar ist, so der BGH.

Im Ergebnis haben die Gerichte stets aufgrund eines möglichen massiven Eingriffs in das Leben von Mietern besonders sorgfältig zu agieren, den Sachverhalt vollständig zu ermitteln und alle Einzelumstände zu berücksichtigen