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OLG Braunschweig, Urteil vom 06.11.2014 – 8 U 62/14 – “Verzählen ist gefährlich


Jeder Jurastudent kennt die Redewendung judex non calculat („der Richter rechnet nicht“). Das bedeutet, dass Rechtsanwendung keine mathematische Übung, sondern Wertung ist. Spötter übersetzen freier, dass Richter nicht rechnen können. Wer Mietvertragsnachträge fertigt, sollte aber zumindest zählen können, was ein Urteil des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 06.11.2014 – 8 U 62/14 – zeigt. Die Mietvertragsparteien hatten einen langjährigen Mietvertrag für die Zeit bis 14.02.2020 geschlossen. Es wurden vier Mietvertragsnachträge vereinbart. Ein fünfter Mietvertragsnachtrag wurde erstaunlicherweise als Nachtrag Nr. 4 bezeichnet. Der Vermieter kündigt daraufhin das Mietverhältnis ordentlich mit der Begründung, die Schriftform sei nicht gewahrt. Den Mieter rettet jedoch, dass im fehlerhaft als Nachtrag Nr. 4 bezeichneten fünften Nachtrag auf die Nachträge 1-4 des Ursprungsmietvertrages verwiesen wird.

Das Landgericht Braunschweig war allerdings noch der Auffassung gewesen, aufgrund des Verzählens liege ein Schriftformmangel vor, der zur Folge habe, dass der Mietvertrag nach § 550 BGB als auf unbestimmte Zeit geschlossen gilt und ordentlich kündbar ist. Obgleich der Nachtrag 4 (in Wirklichkeit der fünfte Mietvertragsnachtrag) auf die Nachträge 1-4 des Ursprungsmietvertrages verweise, sei diese Bezugnahme fehlerhaft, weil es unstreitig fünf Nachträge gegeben habe. Jedenfalls fehle es an der notwendigen zweifelsfreien Zuordnung, so dass ein potentieller Grundstückserwerber nicht wisse, welche vertraglichen Regelungen dem Mietverhältnis zugrunde lägen.

Das Oberlandesgericht Braunschweig teilt diese Auffassung nicht und führt aus, dass trotz des Irrtums kein Schriftformmangel vorliegt. Die hiergegen gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde wurde mit Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 10.06.2015 – XII ZR 131/14 – zurückgewiesen. Das Oberlandesgericht Braunschweig führt aus, zur Wahrung der Schriftform sei es erforderlich, wenn sich die für den Abschluss des Vertrages notwendige Einigung über alle wesentlichen Vertragsbedingungen – insbesondere den Mietgegenstand, den Mietzins sowie die Dauer und die Parteien des Mietverhältnisses – aus einer von beiden Parteien unterzeichneten Urkunde ergibt (BGH NJW 2013, 1083 Tz. 22 und BGH NJW 2014, 2102). Der Mietgegenstand muss zur Wahrung der Schriftform so hinreichend bestimmbar bezeichnet sein, dass es einem Erwerber, dessen Schutz die Schriftform in erster Linie bezweckt, im maßgeblichen Zeitpunkt des Vertragsschlusses möglich ist, den Mietgegenstand zu identifizieren und seinen Umfang festzustellen (BGH NJW 2014, 2102). Werden wesentliche vertragliche Vereinbarungen nicht im Mietvertrag selbst schriftlich niedergelegt, sondern in Anlagen ausgelagert, so dass sich der Gesamtinhalt der mietvertraglichen Vereinbarung erst aus dem Zusammenspiel dieser verstreuten Bedingungen ergibt, müssen die Parteien zur Wahrung der Urkundeneinheit die Zusammengehörigkeit dieser Schriftstücke in geeigneter Weise zweifelsfrei kenntlich machen (BGH NJW 2013, 1083). Dazu bedarf es keiner körperlichen Verbindung dieser Schriftstücke. Vielmehr genügt für die Einheit der Urkunde die bloße gedankliche Verbindung, die in einer zweifelsfreien Bezugnahme zum Ausdruck kommen muss. Ergibt sich der Zusammenhang mehrerer Schriftstücke aus einer Bezugnahme, so ist es erforderlich, dass vom aktuellen Vertrag auf den Ausgangsvertrag und auf alle ergänzenden Urkunden verwiesen wird, mit denen die der Schriftform unterliegenden vertraglichen Vereinbarungen vollständig erfasst sind. Treffen die Mietvertragsparteien nachträglich eine Vereinbarung, mit der wesentliche Vertragsbestandteile geändert werden sollen, muss diese zur Einhaltung der Schriftform des § 550 S. 1 BGB hinreichend deutlich auf den ursprünglichen Vertrag Bezug nehmen, die geänderten Regelungen aufführen und erkennen lassen, dass es im Übrigen bei den Bestimmungen des ursprünglichen Vertrages verbleiben soll (BGH NJW 2013, 1083). Diesen Anforderungen genügt nach Auffassung des Oberlandesgerichts Braunschweig der als Nachtrag Nr. 4 bezeichnete fünfte Nachtrag zum Mietvertrag. Aus diesem Nachtrag sind die Mietvertragsparteien zu entnehmen. Ferner verweist diese Abrede darauf, dass alle übrigen Regelungen des Ursprungsmietvertrages einschließlich der „Nachträge 1-4“ unverändert bestehen bleiben. Dieser Verweis ist auszulegen. Er nimmt nicht nur Bezug auf den Ausgangsmietvertrag, sondern auch auf vier Nachträge. Durch die Formulierung, dass die „Nachträge 1-4“ bestehen bleiben, wird deutlich, dass es neben der neuen Abrede noch vier weitere Nachtragsregelungen gibt. Ansonsten wäre diese Regelung schon in sich unstimmig.

Wäre aus dem als Nachtrag Nr. 4 bezeichneten fünften Mietvertragsnachtrag aber nicht im Wege der Auslegung entnehmbar gewesen, dass es neben dem Ursprungsmietvertrag vier vorangegangene Mietvertragsnachträge gab, hätte ein Schriftformmangel vorgelegen, der zur ordentlichen Kündbarkeit des Mietvertrages geführt hätte. Folglich sollten auch Juristen und andere rechtsgestaltend Tätige richtig zählen. Zwar werden vorsichtige Rechtsanwälte von souveränen Kaufleuten häufig belächelt, wenn größte Sorgfalt darauf gelegt wird, keinen Schriftformfehler zu verursachen. Auch wenn es im Fall des Oberlandesgerichts Braunschweig gerade noch gut gegangen ist, zeigt aber auch diese Entscheidung, dass man bei der Wahrung der Schriftform nicht vorsichtig und sorgfältig genug sein kann.