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BGH, Urteil vom 29.06.2022 – IV ZR 110/21 – “Vorsicht bei der Rechtswahl in letztwilligen Verfügungen“


Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 29.06.2022 entschieden, dass die Wahl englischen Rechts in einem Testament gegen den deutschen ordre public verstoßen und daher unwirksam sein kann. Im Streitfall war der 1936 geborene Erblasser britischer Staatsangehöriger und hatte in einem notariellen Testament für seine Rechtsnachfolge von Todes wegen das englische Recht als Recht seines Heimatstaates gewählt und die im Verfahren beklagte Person zur Alleinerbin eingesetzt. Dadurch wurde sein Sohn enterbt. Dieser hat in dem Verfahren Pflichtteilsansprüche geltend gemacht und sich darauf berufen, dass die Enterbung nach deutschem Recht unwirksam ist.

Der BGH hat dem Sohn des Erblassers Recht gegeben. Denn grundsätzlich ist der Erblasser zwar in der Rechtswahl frei und kann insbesondere für die Rechtsfolge von Todes wegen das Recht wählen, dem er zum Zeitpunkt der Rechtswahl angehörte (Art. 22 EUErbrVO). Allerdings ist die Anwendung des ausländischen Rechts nach Art. 35 EURVO ausgeschlossen, wenn dies mit dem inländischen ordre public offensichtlich unvereinbar ist. Dies war vorliegend aus Sicht des BGH der Fall, weil das englische Recht zu der nach deutschem Recht verfassungsrechtlich verbürgten Nachlassverteilung in einem so schwerwiegenden Widerspruch steht, dass dessen Anwendung im vorliegenden Fall untragbar ist.

Denn im englischen Recht gibt es das Pflichtteilsrecht, das in Deutschland als Institutionsgarantie dem Bestand des deutschen ordre public zuzurechnen ist, nicht. Das Pflichtteilsrecht ist eine grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass und ist grundgesetzlich durch die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Absatz 1 S. 1 und den Schutz der Familie in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt. Das englische Recht kennt demgegenüber einen solchen bedarfsunabhängigen und nach festen Quoten berechneten Anspruch eines Abkömmlings nach dem Tod des Erblassers nicht. Die Frage ob vor diesem Hintergrund die Rechtswahl englischen Rechts in einer letztwilligen Verfügung einen Verstoß gegen den deutschen ordre public darstellt, war bis zur Entscheidung des BGH umstritten.

Nach Auffassung des BGH liegt jedenfalls dann ein offensichtlicher Verstoß vor, wenn es in einem solchen Fall einen hinreichend starken Inlandsbezug gibt. Denn nur dann liegt eine offensichtliche Unvereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung des Staates des angerufenen Gerichts vor. Dies war vorliegend gegeben, da die zu schützende Familienbeziehung des Erblassers ihren Mittelpunkt in Deutschland hatte. Denn sowohl der Kläger als auch der Erblasser haben bzw. hatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt zum Zeitpunkt des Erbfalls in Deutschland, der Erblasser bereits seit mehr als 50 Jahren. Dort befand sich auch das Vermögen des Erblassers, der Kläger besitzt zudem die deutsche Staatsangehörigkeit.

Folge des Verstoßes gegen den ordre public ist, dass die ausländische Rechtsnorm keine Anwendung findet. Dementsprechend war die Enterbung des Klägers, die nach englischem Recht möglich gewesen wäre und danach zu einem Entzug des Pflichtteils geführt hätte, unwirksam und steht diesem nach der Entscheidung ein Pflichtteilsanspruch zu, über dessen Höhe der BGH noch nicht zu entscheiden hatte, da es zunächst um die Grundsatzfrage ging, ob der Sohn überhaupt Pflichtteilsansprüche geltend machen kann.

Bei der Erstellung letztwilliger Verfügungen ist grundsätzlich die Möglichkeit einer Rechtswahl zu beachten und gegebenenfalls auch, ob der Erblasser durch das ausländische Recht möglicherweise eine Besserstellung erlangt, die nach inländischem Recht nicht möglich ist. Wie die vorliegende Entscheidung zeigt, ist dabei aber auch immer zu berücksichtigen, ob ein erheblicher Wertungswiderspruch zum inländischen Recht besteht, weil dann eine Rechtswahlklausel im Testament möglicherweise nicht die beabsichtigten Folgen hat.