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OLG Schleswig, Urteil vom 22.06.2022, 12 U 116/21 – “Mietreduzierung bei pandemiebedingter Schließung von Einzelhandelsgeschäften“


Wir haben in unserem Newsletter mehrere Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vorgestellt, in denen er abstrakte Rechtsgrundsätze aufstellte und darlegte, welche Kriterien zur Beantwortung der Frage maßgeblich sind, ob pandemiebedingte Schließungen von Einzelhandelsgeschäften und pandemiebedingte Beeinträchtigungen eine Mietreduzierung unter dem Gesichtspunkt der Störung der Geschäftsgrundlage rechtfertigen. Spannend ist aber, wie die Instanzrechtsprechung diese abstrakten „Segelanleitungen“ auf die konkreten Fälle anwendet. Wie man dies machen kann zeigt das Urteil des Oberlandesgerichts Schleswig vom 22.06.2022, 12 U 116/21.

Die Parteien waren verbunden durch einen Gewerberaummietvertrag vom April 2012. Die monatliche Miete beläuft sich auf EUR 17.300,00 zuzüglich Betriebskosten von EUR 1.900,00 zuzüglich Umsatzsteuer, insgesamt EUR 22.848,00. Die gemieteten Geschäftsräume waren aufgrund einer Verordnung der Landesregierung Schleswig-Holstein ab dem 19.03.2020, also im sogenannten Lockdown I, zwangsweise geschlossen. Ab 20.04.2020 durften Geschäfte mit einer Verkaufsfläche von bis zu 800 m² unter Auflagen wieder öffnen. Geschäfte wie das der Beklagten mit einer Größe von 1.100 m² durften wieder öffnen, wenn sie ihre Verkaufsfläche auf max. 800 m² reduzierten. Die Geschäftsräume der Beklagten waren vom 19.03.2020 bis einschließlich 03.05.2020 gänzlich geschlossen. Am 04.05.2020 fand eine Teileröffnung auf einer Fläche von 800 m² statt und am 11.05.2020 die vollständige Wiedereröffnung. Ab dem 16.12.2020 erfolgte die erneute Schließung des Einzelhandels mit Beginn des Lockdowns II. Dieser dauert in Schleswig-Holstein für den Einzelhandel bis einschließlich 07.03.2021. Die Mieten für die Monate April und Mai 2020 sowie März 2021 zahlte die Beklagte nicht. Für Februar 2021 zahlte sie nur die Vorauszahlungen auf die Betriebskosten (brutto).

Das OLG Schleswig führt aus, dass eine pauschale Reduzierung auf die Hälfte der Miete nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage nicht in Betracht kommt. Auch könne ein Mieter nicht stets eine Anpassung der Miete für den Zeitraum der Schließung verlangen. Ob ihm ein Festhalten an dem unveränderten Vertrag zumutbar ist, bedarf vielmehr einer umfassenden Abwägung, bei der sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind. Der Mieter muss darlegen und beweisen, dass ihm ein Festhalten am unveränderten Vertrag unzumutbar ist. Er muss nachweisen, welche Nachteile ihm entstanden sind und welche zumutbaren Anstrengungen er unternommen hat, um drohende Verluste auszugleichen. Öffnet der Mieter das Geschäft nicht wieder, obwohl dies möglich wäre, geht dies voll zu seinen Lasten.

Im Einzelnen führt das Oberlandesgericht zu den Monatsmieten Folgendes aus:

Monat April 2022

Der Vermieter verlangte für den Monat April 2020 die vollständige, nicht gezahlte Miete in Höhe von EUR 22.848,00. Das Oberlandesgericht geht von einer Reduzierung der Miete um 15 % wegen pandemiebedingter Unzumutbarkeit aus und spricht dem Vermieter einen Betrag von EUR 19.420,80 zu.

Bei der Abwägung, ob und in welchem Umfang eine Mietreduzierung wegen Störung der Geschäftsgrundlage in Betracht kommt, ist auf die Nachteile beim Mieter und auf das Interesse des Vermieters abzustellen. Heranzuziehen sind im Einzelnen folgende Kriterien:

Nachteile beim Mieter:

  • Bezogen auf das konkrete Mietobjekt: Betriebsschließungen, Begrenzungen der Geschäftsfläche, Begrenzungen der Personenzahl im Verhältnis zur Fläche, Beschränkung des Zugangs auf Personen mit einem bestimmten Impfstatus, nicht aber Umstände, die nicht auf die behördliche Anordnung zurückgehen: Unternehmerisch vorgenommene Verkürzung der Ladenöffnungszeiten, allgemeine Kaufzurückhaltung z.B. wegen Maskenpflicht, Abstand halten
  • Konkreter, erheblicher Umsatzrückgang, nicht erforderlich: Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz des Mieters
  • Möglichkeit des Mieters, die Verluste zu mindern
  • Kompensationsleistungen Dritter: Staatliche Leistungen (ohne Darlehen) und einstandspflichtige Betriebsversicherung

Dabei muss der Mieter darlegen und beweisen, dass ihm ein Festhalten am unveränderten Vertrag unzumutbar ist. Er muss nachweisen, welche Nachteile ihm entstanden sind und welche zumutbaren Anstrengungen er unternommen hat, um drohende Verluste auszugleichen.

Hiervon ausgehend waren im konkreten Fall für den Monat April 2022 folgende Kriterien maßgeblich:

  • Schließung/Beschränkung der Flächen

Das Geschäft der Mieterin war zu Beginn des Monats April 2020 aufgrund des Lockdown I geschlossen. Erzwungen war diese Schließung jedoch nur bis einschließlich 19.04.2020. Ab dem 20.04.2020 durfte der Einzelhandel in Schleswig-Holstein eingeschränkt wieder öffnen, wenn auch unter strengen Auflagen mit Verkaufsflächen bis zu 800 m² mit entsprechendem Hygiene- und Sicherheitskonzept. Im Übrigen hatten die geltenden Regelungen zur Kontaktbeschränkung – Aufenthalt im öffentlichen Raum nur allein, höchstens mit einer Begleitperson, sowie Reduzierung des Aufenthalts außerhalb des Wohnbereichs auf ein absolut notwendiges Minimum – weiterhin Gültigkeit. Die Mieterin nutzte diese Öffnungsmöglichkeiten nicht, sondern öffnete ihr Ladengeschäft erst im Mai 2020 wieder.

  • Umsatzrückgang

Aufgrund der vollständigen Schließung im Monat April 2020 hatte die Mieterin einen Umsatzrückgang von 100 %.

  • Mögliche Kompensation durch online-Handel/click & collect

Es war logistisch nicht möglich, die in den einzelnen Filialen vorhanden Waren in den online-Handel zu integrieren. Der online-Handel war nicht filialbezogen und stellte weniger als 10 % des Gesamtumsatzes dar. Eine Kompensation der Umsatzeinbußen durch den online-Handel war nicht möglich gewesen, weil die Kunden den stationären Handel bevorzugten. Die Möglichkeit des click & collect war erst später entwickelt worden.

  • Mögliche Kompensation durch weggefallene Wareneinkäufe/verlorenen Wareneinsatz

Die Mieterin hat auch keine Vorteile durch weggefallene Wareneinkäufe, da in der Modebranche langfristige vertragliche Bindungen bestehen. Im Gegenteil, der Wareneinsatz ging verloren. In der kurzlebigen Modebranche kann die aktuelle Kollektion nicht in der nächsten Saison verkauft werden.

  • Staatliche Leistungen – Kurzarbeitergeld

Die Mieterin hatte nur im Monat April 2020 Kurzarbeitergeld erhalten. Das Kurzarbeitergeld war vollständig an die Mitarbeiter ausgezahlt worden. Es habe zu keiner Kompensation der Umsatzeinbußen geführt. Weitere staatliche Leistungen hatte die Mieterin nicht erhalten.

  • Betriebsschließungsversicherung

Die bestehende Betriebsschließungsversicherung deckte den Pandemiefall nicht ab. Dies entspricht dem Stand der Rechtsprechung, BGH, Urteil vom 26.01.2022 – IV ZR 144/21.

  • Interessen des Vermieters

Vermieter war eine GbR bestehend aus Vater und Sohn. Die Mieterin ist ein europaweit agierender Konzern, der auch „Ankermieter“ ist. Der Vermieter benötigt die Mieteinnahmen zur Abdeckung der kreditbedingten Finanzierungen.

Das Oberlandesgericht kommt für die Miete April 2022 zur Bewertung, dass die Miete für April 2020 um 15 % zu reduzieren ist. Hinsichtlich der Schließungszeit ist nicht der gesamte Monat zu berücksichtigen, da die Mieterin bereits ab dem 20.04.2020 von Gesetzes wegen wieder öffnen durfte und auch die Einschränkung im Hinblick auf eine Verkaufsfläche von nur 800 m² i.V.m. der beschränkten Personenzahl sich kaum auf die Geschäftstätigkeit ausgewirkt hätte. Da die Verkaufsfläche ohnehin nur 947 m² betrug hätte die Mieterin ihr gesamtes Warensortiment uneingeschränkt präsentieren können. In die Wertung stellte das Gericht auch ein, dass der Umsatz der Mieterin unabhängig von Corona Jahr für Jahr zurückging, wobei das Gericht spekulierte, dies beruhe darauf, dass der stationäre Einzelhandel seit Jahren sowohl mit dem immer stärker werdenden Onlinehandel als auch mit den noch billigeren Discountern zu kämpfen habe. Eine gewisse Kompensation der Umsatzeinbußen trat zudem durch das erhaltene Kurzarbeitergeld ein. Auch wenn die Mieterin dieses Geld an ihre Mitarbeiter ausgezahlt hat, hat sie dadurch doch gleichzeitig eigene Gehaltszahlungen in erheblichem Umfang gespart.

Zugunsten des Vermieters wurde berücksichtigt, dass es sich um eine mittelständische GbR zweier natürlicher Personen, bei der Mieterin hingegen um einen Ankermieter handelt. Insgesamt sah das Gericht bei einer Pandemie bedingten, staatlichen Schließung von 11 von 30 Tagen unter teilweiser Kompensation der Personalkosten eine Mietreduzierung i.H.v. 15 % der Gesamtmiete als gerechtfertigt an.

Monat Mai 2020

Für den Monat Mai 2020 kommt nach Auffassung des Oberlandesgerichts Schleswig keine Mietreduzierung in Betracht, denn das Geschäft hätte bereits am 20.04.2020 wieder auf einer Teilfläche von 800 m² eröffnet werden dürfen. Die verzögerte Eröffnung des Geschäfts beruhte allein auf einer unternehmerischen Entscheidung der Mieterin, die keinen Einfluss auf die Verpflichtung zur Mietzahlung hat.

Monat Februar 2021

Für Februar 2021 geht das Gericht von einer Reduzierung der Miete um 30 % aus. Der Monat lag vollständig im sogenannten Lockdown II. Allerdings konnte die Mieterin Umsätze durch click & collect erwirtschaften. Dabei waren die Umsätze sehr deutlich niedriger als im Vorjahr, sie betrugen nur etwa 28 % des Vorjahresumsatzes. Kompensationen durch Kurzarbeitergeld, Onlinehandel, ersparte Wareneinkäufe, späteren Verkauf der liegen gebliebenen Ware oder Versicherungsleistungen sind nicht erfolgt.

Unter Berücksichtigung dieser Umstände und des generellen Umsatzrückgangs im Einzelhandel kommt das Gericht zu einer Mietreduzierung von 30 %.

Monat März 2021

Für den Monat März 2021 kommt eine Reduzierung der Miete nicht in Betracht, denn der Lockdown II endete für das Ladengeschäft der Mieterin nach wenigen Tagen des März 2021.