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BGH, Urteil vom 09.11.2016 – VIII ZR 73/16 – “Zur Keine fristlose Kündigung trotz erheblicher Pflichtverletzung?“
Der Bundesgerichtshof hat sich im Urteil vom 09.11.2016 damit befasst, ob ein Wohnraummietverhältnis trotz erheblicher Pflichtverletzungen der Mieterin wirksam durch Kündigung beendet werden kann. Die 1919 geborene Mieterin (Beklagte zu 1) hat eine 3-Zimmerwohnung in München 1955 angemietet. 1963 wurde zusätzlich im selben Gebäude und Stockwerk eine 1-Zimmerwohnung angemietet. Die Mieterin ist an Demenz erkrankt, die Betreuung wurde angeordnet. Der Beklagte zu 2 ist zum Betreuer bestellt und bewohnt seit dem Jahr 2000 die 1-Zimmerwohnung und pflegt die Beklagte zu 1. Die klagende Vermieterin hat bereits 2007 ihre Bedenken bezüglich der Person des Beklagten zu 2 als Betreuer geäußert und wirkte auf die Entbindung des Beklagten zu 2 hin. Das Betreuungsgericht sprach sich jedoch für eine Fortdauer der Betreuung und Pflege aus. Im Jahr 2010/2011 schrieb der Beklagte zu 2 wiederholt Briefe und E-Mails mit beleidigenden Inhalt an Nachbarn und die klagende Vermieterin. In der Folgezeit gab die Klägerin die Hausverwaltung an ihren geschiedenen Ehemann ab, der sich in einem Schreiben vom 31.03.2015 an die Beklagten mit der Bitte wandte, ein Fahrrad aus dem Hausflur zu entfernen. Das lehnte der Beklagte zu 2 mit einer beleidigenden E-Mail an den Verwalter ab, unter anderem mit den Worten „eure beschissene/verschissene Anfeindungscharakter“. Daraufhin erklärte die Klägerin mit Anwaltsschreiben vom 21.04.2015 die fristlosen Kündigungen der Mietverhältnisse. Dies veranlasste den Beklagten zu 2 zu einer E-Mail vom 24.04.2015, in der er der Klägerin „Hausverbot“ erteilte und „perverse Anfeindungstendenzen“ attestierte sowie die Klägerin unter anderem als „feige Lästerin“ bezeichnete. Daraufhin kündigte die Klägerin mit weiteren Anwaltsschreiben vom 27.04.2015 erneut fristlos und – nach einer weiteren grob beleidigenden E-Mail des Beklagten zu 2 an den Verwalter – nochmals mit Schreiben vom 06.05.2015. Das Amtsgericht hat die auf Räumung und Herausgabe beider Wohnungen sowie Zahlung vorgerichtlicher Anwaltskosten gerichtete Klage abgewiesen. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die Beklagten fordern mit der beim Bundesgerichtshof einlegten Revision die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Revision hat Erfolg. Denn das Berufungsgericht hat bei der Beurteilung, ob Gründe für eine fristlose Kündigung vorliegen, die Berücksichtigung der in der Person der Beklagten zu 1 liegenden Härtegründe außer Betracht gelassen. Dadurch hat es die gesetzliche Systematik verkannt. Die Härtegründe sind bereits bei der Prüfung der Voraussetzungen einer fristlosen Kündigung zu prüfen und nicht erst im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens nach § 765a ZPO.
Zutreffend hat das Berufungsgericht allerdings gesehen, dass sich die Beklagte zu 1 die widerholten und ungewöhnlich groben Beleidigungen ihres Betreuers im Zusammenhang mit dem Mietverhältnis zurechnen lassen muss, weil die Beklagte zu 1 dem Beklagten zu 2 die 1-Zimmerwohnung zum selbstständigen Gebrauch überlassen hat (§ 540 Abs. 2 BGB). Auch Besucher, die sich im Einverständnis mit dem Mieter in der Wohnung aufhalten, sind Erfüllungsgehilfen des Mieters und deren Verhalten muss sich der Mieter demnach nach § 278 BGB zurechnen lassen. Die Beleidigungen stellen eine schwerwiegende Vertragsverletzung dar. Auch wenn die Beklagte zu 1 demnach persönlich schuldlos handelte, liegen im Ergebnis schwerwiegende (schuldhafte) Verletzungen des Mietvertrages vor. Die Beleidigungen erscheinen auch nicht deshalb in einem milderen Licht, weil die Klägerin etwa versucht hat, den Beklagten zu 2 als Betreuer abzulösen. Die Klägerin hat stets einen sachlichen Ton angewendet, so dass die Wertung des Berufungsgerichtes nicht zu beanstanden ist. Bei der Gesamtabwägung nach der Generalklausel müssen aber auch die persönlichen Härtegründe im Hinblick auf die Situation der Beklagten zu 1 zu berücksichtigen sein. Es muss eine Abwägung der beidseitigen Interessen der Mietvertragsparteien und eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorliegen. Die Einbeziehung der schwerwiegenden persönlichen Härtegründe ist auch verfassungsrechtlich aufgrund der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte geboten, so der Bundesgerichtshof, denn aus Artikel 2 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz folgt, dass die Gerichte bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Lebensgefahr verfassungsrechtlich gehalten sind, ihre Entscheidung auf eine tragfähige Grundlage zu stellen und Beweisangeboten besonders sorgfältig nachzugehen. Demnach müssen die Grundrechte des Mieters und insbesondere das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit bei der Gesamtabwägung nach § 543 Abs. 1 S. 2 BGB berücksichtigt werden. Zur Folge haben kann dies, dass ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung wegen besonders schwerwiegender persönlicher Härtegründe auf Seiten des Mieters trotz einer erheblichen Pflichtverletzung nicht vorliegt. Als Härtegründe wurden dargelegt, dass die Beklagte zu 1 auf die Betreuung durch den Beklagten zu 2 in ihrer bisherigen häuslichen Umgebung angewiesen ist und bei einem Wechsel der Betreuungsperson oder einem Umzug schwerwiegendste Gesundheitsschäden zu besorgen sind. Es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass der Klägerin eine Fortsetzung des Mietverhältnisses mit der hochbetagten Beklagten zu 1 trotz der Beleidigungen gröbster Natur durch den Beklagten zu 2 nicht unzumutbar ist, wenn bei der Beklagten zu 1 für den Fall eines erzwungenen Wechsels der bisherigen häuslichen Umgebung und Pflegesituation schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen zu besorgen sind.
Nachdem das Berufungsgericht derartige Feststellungen nicht getroffen hat, wurde das Urteil aufgehoben und an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Damit stellte der Bundesgerichtshof klar, dass etwaige persönliche Härtegründe auf Seiten des Mieters bereits bei der Güterabwägung im Rahmen der Kündigung zu berücksichtigen sind. Dies geht bereits aus dem Wortlaut des § 543 Abs. 1 BGB hervor, wo von beidseitigen Interessen und der Abwägung die Rede ist. Daher war es eine Selbstverständlichkeit, dass der Bundesgerichtshof die Rechtsauffassung des Berufungsgerichtes korrigiert.